Großmütter

Rosa hat viele Erinnerungen an die Großmutter mütterlicherseits, zum Teil vermischen sie sich mit Erzählungen der Mutter und es mögen so manche false memories dabei sein. Das Bild in ihrem Kindheitsgedächtnis zeigt eine kleine Frau im Schürzenkleid, gebückt mit einem langen schwarzen Zopf, den sie zum Knödel gesteckt hat, in seltenen Momenten durfte Rosa ihr Haar entknoten und aufflechten und das, bis zur Hüfte reichende dünne mit grau durchzogenen Fäden, Haar kämmen. Rosa fühlte sich in diesen Momenten der Großmutter vertraut und nah. Wenn die Eltern verreist waren, durfte sie alleine zu Omama, während ihr Bruder bei der Oma blieb. Sie schläft mit ihr im großen, alten Doppelbett, wäscht sich in dem einfachen Bad und bekommt abends vor dem Schlafengehen Hagebuttentee und Butterbrot. Heimlich schleicht Rosa sich in das kleine Wohnzimmer mit dem Bücherregal und liest in den Liebesromanen der Großmutter. Sie erinnert sich, wie sie mit dem Nachbarmädchen vor der Tür Kaufmannsladen spielte und Zuckerwasser verkaufte. Es gab kein Spielzeug bei der Omama, so hieß es, kreativ sein und sich mit selbst erfundenen Spielen die Zeit zu vertreiben. Wenn Rosa mit den anderen Kindern spielte und es Abend wurde, kam die Großmutter und brachte ihr eine Jacke, damit sie nicht krank würde. Immer begleitete sie die gebückte, mit traurigem Schleier in den Augen wirkende Frau auf den Friedhof, kein Tag verging ohne den Besuch an Großvaters Grab, der mit sechsundfünfzig unerwartet an einem Herzinfarkt verstarb. Rosa war damals vier Jahre alt und hat nur zwei Erinnerungen an ihn, die eine, dass er immer Späße machte und sein Gesicht zu einer Fratze verzog, um die Kinder zu erschrecken, wobei er sein loses Gebiss nach vorne gleiten ließ und an den Tag, als der Onkel die Nachricht seines überraschendes Todes der Mutter überbringt. Seit diesem Tag gehört es zu den wichtigsten Aufgaben der Großmutter, oder vielleicht zur einzigen, stereotyp täglich den Friedhof aufzusuchen. Das Leben der Großmutter ist geprägt von Angst, Angst einem ihrer inzwischen erwachsenen acht Kinder könnte etwas zustoßen, eine Tochter ist an einer Blutunverträglichkeit bei der Geburt ihrer Tochter verstorben. Angst, es könnte zu kalt sein, Angst, Gott könnte eine Strafe verhängen, Angst, es könnte etwas Schlimmes passieren, sie hatte eine nicht endende Liste von abergläubischen Zitaten, die uns Kinder wiederum Angst bis in die Träume bereitet haben.

Die Großmutter väterlicherseits wohnte im Haus und es gibt wenig Bindung Rosas an sie, weil die Großeltern ihrem Bruder immer den Vorzug gaben, so sehr sie sich auch um Aufmerksamkeit bemühte, es nützte wenig, weil sie mit ihrer Mutter gleichgestellt wurde, die nicht sonderlich viel Achtung erfahren hatte. Oma war immer geschäftig, immer am Putzen und Kochen, besonders, wenn der andere Sohn anreiste. Gleichzeitig war sie ständig überfordert und errang ihre Aufmerksamkeit von der Familie mit hypochondrischen Beschwerden und Anfällen…

ka 2012

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