Spaltung

Es ist, als käme es allmählich zur Spaltung meines Ichs. Der Teil, der im Alltag funktioniert und unauffällig alle Aufgaben dicht aneinander gereiht erledigt, der andere Teil, der in eine innere Emigration flüchtet oder auch ans Ziel gelangt, losgelöst von der Gesellschaft, von dem, was man sein sollte, was wir zu leben vorgegeben bekommen. Es ist kein Verdienst, geboren zu werden, es passiert ohne unser Zutun, ja sogar ohne unseren Wunsch, ebenso bleibt es meist außer unserer eigenen Handhabe zu sterben. Geburt und Tod sind feststehende Konstanten im Leben, die Variablen x und y liegen dazwischen. Ich überlege mir, was ist mein Auftrag? Die vergangenen Generationen zu büßen oder das Generationengedächtnis zu löschen oder zumindest aufzubrechen. Die Spaltung, in jene Persönlichkeit, die fortsetzt was war und jene, die den Loslösprozess vom Familienschmerz einleitet, damit die Nachkommen frei davon sein können, ist eine tragische Aufgabe. Ein Kampf, dessen Gewinner ungewiss bleibt, weil es vielleicht keinen Gewinner gibt. Großmutters, Mutters Stimme, stellvertretend für alle Gedächtnisdämonen im Kopf, in der Nacht, wenn es still wird und die Aufgaben ruhen, gegen die manipulierende Stimme des großen Unbekannten, der mich mitnehmen will in eine andere Welt, die verboten in der alten Erinnerungswelt ist, die verlockend, befreiend zugleich zu sein scheint und doch so unerreichbar, weil Schuld und Angst einreißen, was mühsam Stein für Stein als Märchenschloss konstruiert wurde.

Ein Weg führt in die Einsamkeit, ein gefährlicher, unbarmherziger Weg, der alles Gemeinsame zu sprengen droht, der das Wir der Liebe ins Lachhafte zieht, der mit zynischem Auge Verbundenheit als Fiktion anerkennen muss. Da steht das ICH in Großbuchstaben, so groß, dass es auf alles Andere die Sicht versperrt, hingekotzt aus tiefster Seele, die jede Zerreißprobe wieder und wieder überstanden hat, um letztendlich sogar sich selbst ins Lächerliche zu befördern. Die Last aus der Vergangenheit abzuwerfen ist längst überflüssig geworden, sie bröckelt von selbst Stück für Stück, sie spuckt sich ins Gesicht, das es zu bewahren gab. Grausam die Teile des Ichs aufzusammeln, zusammenzufügen, was einst ein stimmiges Bild ergab und mir nun im Spiegelbild als Fratze entgegen lacht. Aufzugeben wäre einfach, umzukehren in gewohnte Umlaufbahnen ebenso, weiterzugehen, allein der Gedanke macht mich müde.

Das berühmte Bild des Hamsters im Laufrad nimmt mich gefangen und lässt mich erst wieder frei, wenn die dunklen Gedanken, die meiner Seele über Generationen vererbt wurden, sich einen anderen Wirt suchen, bei dem sie einkehren, wie die Parasiten, die immer fetter und fetter werden, indem sie sich ans Leben eines Anderen heften. Wenn ich alle Kraft zusammensammle, dann fühle ich diese frische Luft außerhalb des Laufrades, die manchen in die Wiege gelegt wurde, anstatt der Schwere, die seit meinem ersten Atemzug mein Wesen umgibt. Die Schwere, die an manchen Tagen meine Schritte lähmt und ich spüre den Widerstand in mir, dem nachzugeben im Wissen, einmal sich gehen lassen, sich treiben lassen in den dunklen Wolken bedeute, den Kampf aufzugeben, sich ergeben, sich erdrücken lassen von der Last auf den schmalen Schultern, die nicht geeignet sind, solche Gewichte zu tragen. Was dann? Am Boden liegend sich tot stellen, sich gegen die Schwerkraft mühsam wieder auf die Beine mühen, alle Lasten wieder links und rechts verteilen, um den Weg fortzusetzen? Nein, dann doch lieber durchhalten, Schritt für Schritt, das Ziel scheint immer in Reichweite, wenn ich dort bin, nein da, dann wird es leichter, dann ist die Schuld abgetragen. Da ist nun wieder das ICH in Großbuchstaben, es sammeln sich die kleinen traurigen, verzweifelten, hoffenden, sich verbiegenden, die den Anderen gefalllen wollenden, glückenden, liebenden und zornigen Ichs in kleinen Gruppen um das ICH. Jedes dieser Ichs sucht seinen Platz, rempelt, drängt, zerrt und versucht seine Berechtigung zu bekommen. An vorderster Front kämpft das kleine Mädchen Ich, es möchte so gern der Mutter gefallen und geliebt werden. Es müht sich ab und stellt allerlei an, um gesehen zu werden, um gelobt, geliebt zu werden. Das Mädchen Ich hat ein Schwergewicht und begleitet das ICH auf Schritt und Tritt, so sehr sehnt es sich nach Geborgenheit, nach Sicherheit. Aber da wird es schon verstoßen, verdrängt, von dem kämpfenden Ich.

ka 2013

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